Behörde muss Bescheid ausreichend begründen: Bundeslandweiter Maulkorbzwang bei Freilauf im Außenbereich nur bei konkreter Gefahr rechtmäßig
Maulkorbzwang Bayern
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 06. April 2016, AZ: 10 B 14.1054
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof betont in seinem Urteil vom 06. April 2016, wie wichtig es für die Rechtmäßigkeit eines Bescheids ist, dass die Ordnungsbehörde eine ausreichende Gefahrenprognose anstellt und sich nicht nur mit unsicheren Erwägungen zu möglichen Gefahren, die von einem Hund ausgehen könnten, zufrieden gibt. So formulierte das Gericht:
„Ein bayernweiter Maulkorbzwang für einen „großen“ Hund außerhalb im Zusammenhang bebauter Ortsteile ist nur dann rechtmäßig, wenn eine in tatsächlicher Hinsicht hinreichend abgesicherte Prognose vorliegt, dass der betreffende Hund die in Art. 18 Abs. 1 LStVG genannten Schutzgüter (auch) im Außenbereich konkret gefährdet. (Anmerkung: Art. 18 Abs. 1 lautet: „Zur Verhütung von Gefahren für Leben, Gesundheit, Eigentum oder die öffentliche Reinlichkeit können die Gemeinden durch Verordnung das freie Umherlaufen von großen Hunden und Kampfhunden im Sinn des Art. 37 Abs. 1 Satz 2 in öffentlichen Anlagen sowie auf öffentlichen Wegen, Straßen oder Plätzen einschränken. Der räumliche und zeitliche Geltungsbereich der Verordnung ist auf die örtlichen Verhältnisse abzustimmen, wobei auch dem Bewegungsbedürfnis der Hunde ausreichend Rechnung zu tragen ist.“) Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse oder die bloße entfernte Möglichkeit, gelegentlich auf Spaziergänger oder Freizeitsportler zu treffen, reicht hierfür nicht aus.“
Zugrundeliegend war der Fall eines Halters eines American Bulldog-Mischlings namens „Jin“. Dieser beantragte für seinen Hund die Erteilung eines sog. Negativzeugnisses. Hierfür wurde das Tier begutachtet, wobei die Gutachterin zu dem Ergebnis kam, dass bei „Jin“ keine gesteigerte Aggressivität und Gefährlichkeit gegenüber Menschen und Tieren festgestellt werden könne, sodass ein Negativzeugnis ausgestellt werden könne. Bei Begegnungen mit gleichgeschlechtlichen Artgenossen sei jedoch erhöhte Vorsicht geboten, weshalb die Gutachterin der Behörde empfahl, den Hundehalter anzuweisen, „Jin“ an einer reißfesten Leine auszuführen oder ausführen zu lassen. Das Freilaufenlassen solle nur dort gestattet werden, wo übersichtlich sei, dass keine anderen Hunde vorhanden seien oder plötzlich hinzukommen könnten. Auch empfahl sie, dem Hundehalter aufzugeben, mit „Jin“ an einem Erziehungskurs in einer Hundeschule teilzunehmen. All dem kam die Behörde in ihrem Bescheid gegenüber dem Hundehalter nach, erließ aber zusätzlich die Auflage, dass der Hund bei freiem Auslauf einen Maulkorb zu tragen habe, und zwar im gesamten Gebiet des Freistaates Bayern.
Zu diesem Maulkorbzwang führte die Behörde aus, dass es zu Beißvorfällen komme oder kommen könne, wenn „Jin“ außerhalb der Ortschaft frei herumlaufe und keinen entsprechenden Schutz trage. Es entspreche zwar dem Bewegungsbedürfnis von Hunden, nicht stets an der Leine laufen zu müssen, weshalb durchaus sachgerecht sei, außerhalb geschlossener Ortschaften von der Anleinpflicht zu befreien. Jedoch könne der Hund, so die Behörde weiter, wenn er außerhalb geschlossener Ortschaften frei herumlaufe, in gleicher Weise wie innerhalb des Ortes in Kontakt mit dritten Personen kommen: „Jin“ werde, wenn er frei herumlaufe, auf Jogger, Spaziergänger, Radfahrer oder andere Nutzer des Außenbereichs treffen.
„Jin“s Halter klagte gegen diesen Bescheid und bekam von den Richtern recht. Sie folgten der Argumentation der Behörde nicht, sondern betonten, dass bei einer solch durchgreifenden Anordnung wie dem bundeslandweiten Maulkorbzwang konkrete Anhaltspunkte für Gefahren vorliegen müssten, welche die Behörde mit ihren allgemeinen Erwägungen hier gerade nicht geltend gemacht hatte.
So führte das Gericht aus: „Eine Anordnung nach Art. 18 Abs. 2 LStVG (Anmerkung: Dies ist eine Anordnung für den Einzelfall zur Haltung von Hunden) darf allerdings nur erlassen werden, wenn im jeweils gesondert zu betrachtenden Einzelfall eine konkrete Gefahr für die betreffenden Schutzgüter vorliegt. (…) Der Senat vertritt jedoch in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass von großen Hunden, die auf öffentlichen Straßen und Wegen mit relevantem Publikumsverkehr frei herumlaufen, eine konkrete Gefahr für Leib und Leben Dritter ausgeht, auch wenn es in der Vergangenheit noch nicht zu konkreten Beißvorfällen gekommen ist.“ Hier waren aber gerade nicht solche Bereiche mit „relevantem Publikumsverkehr“ betroffen, sondern „Jin“ sollte auch im Außenbereich einen Maulkorb tragen. Für diesen Bereich war das Gericht der Ansicht, dass nicht per se davon ausgegangen werden könne, dass es dort ebenfalls zwangsläufig zu den die konkrete Gefahrenlage begründenden Kontakten mit anderen Menschen oder Hunden kommen könne:
„Die bloße entfernte oder abstrakte Möglichkeit, dass der Hund des Klägers außerhalb bewohnter Gebiete auf Menschen oder andere Hunde treffen und diese angreifen („verfolgen“, „stellen“) und von seinem Halter in solchen Situationen nicht oder nicht rechtzeitig zurückgehalten werden könnte, reicht für das Erfordernis einer konkreten Gefahr für die in Art. 18 Abs. 1 und 2 LStVG genannten Rechtsgüter nicht aus.“
Schon gar nicht sei ersichtlich, dass Passanten und Freizeitsportler im gesamten Bundesland den Außenbereich so stark nutzen würden, dass auch nur annähernd eine so starke Frequentierung entstehe, die der des „Innenbereichs“ entspreche.
Auch betonten die Richter, dass die Einstufung von „Jin“ als „großem“ Hund, der aufgrund seiner Rasse mit einer erhöhten Beißkraft ausgestattet ist, an diesem Ergebnis nichts ändere: „Nur für Hunde, deren Gefährlichkeit durch konkrete Anhaltspunkte oder Tatsachen belegt ist, kommt neben dem Leinenzwang in bewohnten Gebieten grundsätzlich ein Maulkorbzwang in Betracht, wenn der Hund außerhalb bewohnter (aber zumindest entsprechend frequentierter) Gebiete frei laufen darf. Denn wenn ein Hund, bei dem eine entsprechende Gefahrenprognose besteht, unangeleint herumläuft und sich nicht mehr im unmittelbaren Einflussbereich des Halters befindet, können sich dort aufhaltende Personen oder Tiere nur so in angemessener Weise geschützt werden.“ Da dies auf „Jin“ aber nicht zutraf, konnte die Behörde mit ihrer Argumentation nicht überzeugen; der Bescheid wurde als rechtswidrig eingestuft und war insofern aufzuheben.