Einstufung als gefährlicher Hund; Schädigung eines „anderen Tieres“
„Ein „anderes Tier“ im Sinne von § 2 Abs 2 Nr 2, 1. Alt. Hess HundeVO (HuV HE) kann auch ein (anderer) Hund sein.“
Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 10. Mai 2005, Az. 11 UE 3488/04
Vorinstanz: Verwaltungsgericht Gießen, Urteil vom 16. Juli 2004, Az. 10 E 5578/03
Der Sachverhalt
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der Verfügung der Beklagten (Ordnungsamt) vom 28. Juli 2003, mit der der Hund der Klägerin als gefährlicher Hund im Sinne der HundeVO eingestuft wurde.
Der Rottweilerrüde der Klägerin biss den Border Collie des Zeugen „S“, wodurch dieser leichte Blessuren erlitt.
Der Hund der Klägerin wurde daraufhin von der beklagten Behörde als gefährlich gem. § 2 Abs. 2 Nr. 2, 1. Alt. HundeVO eingestuft.
Hiergegen wehrt sich die Kägerin.
Das VG Gießen gab der Klage zunächst mit folgender Begründung statt:
Der von der Behörde hinsichtlich der Feststellung des Rottweilerrüden der Klägerin herangezogene Tatbestand des § 2 Abs. 2 Nr. 2 HundeVO sei nicht erfüllt. Der Border-Collie des Zeugen „S“ habe nur oberflächliche Wunden in Form zweier kleiner Löcher an der linken Halsseite davongetragen. Es stehe danach zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Hund des Zeugen „S“ als Folge einer artgerechten Auseinandersetzung zwischen den Hunden nur leichte Blessuren erlitten habe. Nach den Einlassungen des Zeugen Dr. R. könne nicht auf ein inadäquates Aggressionsverhalten des Rottweilers geschlossen werden. Hätte ein solches vorgelegen, wären – so das Verwaltungsgericht – entsprechend stärkere Hautperforationen entstanden. Auch wenn der eigentliche Verlauf der Auseinandersetzung nicht habe aufgeklärt werden können, müsse aufgrund des vorliegenden Schadensbildes von einer Auseinandersetzung im üblichen Ritualbereich ausgegangen werden. Etwas anderes folge auch nicht aus den von der Beklagten zur Begründung ihrer Verfügung angeführten weiteren Vorfällen. Soweit hier ursprünglich von Bissverletzungen die Rede gewesen sei, habe sich auch hier herausgestellt, dass es sich lediglich um Kratzer gehandelt habe. Eine Grundaggressivität könne auch nicht aus dem mit ihm durchführten Wesenstest abgeleitet werden. Die Aussage des Gutachters zu einem von ihm beobachteten aggressiven Verhalten des Hundes ließen nicht zureichend erkennen, ob sich diese Aggression im Bereich des artgerechten Verhalten bewege oder Ausdruck eines inadäquaten Aggressionsverhaltens sei. Die Feststellung des Gutachters, der Hund berge bei Belastungen in Verbindung mit mangelnder Sicherheit eine gesteigerte Gefährlichkeit, sei mit anderen Erkenntnissen des Gutachters unvereinbar. Wegen dieser Widersprüche sei das Gutachten letztlich nicht verwertbar.
Gegen dieses Urteil legte die beklagte Behörde Berufung ein.
Das Urteil
Die Berufung der Beklagten (Behörde) hatte Erfolg.
Zu Recht sei in dem angefochtenen Bescheid der Hund der Klägerin als gefährlicher Hund im Sinne der Gefahrenabwehrverordnung über das Halten und Führen von Hunden (HundeVO) eingestuft worden. Gefährlich sei ein Hund, bei dem die Gefährlichkeit – wie bei dem Rottweiler der Klägerin – nicht bereits auf Grund seiner Zugehörigkeit zu einer der in § 2 Abs. 1 Satz 2 HundeVO aufgeführten Hunderassen oder -gruppen oder wegen ihrer Abstammung von einem Hund einer solchen Rasse oder Gruppe vermutet wird, nach § 2 Abs. 2 Nr. 2, 1. Alternative HundeVO dann, wenn er ein anderes Tier durch Biss geschädigt habe, ohne selbst angegriffen worden zu sein. Die Voraussetzungen dieser Regelung lägen bezüglich des Hundes der Klägerin vor.
Die Bedenken der Klägerin an der Anwendbarkeit der vorgenannten Bestimmung auf Fälle der vorliegenden Art, in denen es Schädigungen geht, die einem Hund durch den Biss eines anderen Hundes zugefügt wurden, teile das Gericht nicht.
Der Begriff „anderes Tier“ in § 2 Abs. 2 Nr. 2, 1. Alt. HundeVO meine auch (andere) Hunde. Aus der Regelung in § 2 Abs. 2 Nr. 3 HundeVO folge entgegen der Ansicht der Klägerin nichts Gegenteiliges.
§ 2 Abs. 2 Nr. 3 HundeVO kennzeichne eine spezifische Art der Gefährlichkeit von Hunden durch nicht beherrschbaren Ausbruch ihres Jagdtriebes, der in der Regel nicht auf andere Hunde, sondern auf Tiere gerichtet sei, die der Hund als Beute betrachte. Diese besondere Zielrichtung der Bestimmung in § 2 Abs. 2 Nr. 3 HundeVO sei auf § 2 Abs. 2 Nr. 2 1. Alt. HundeVO nicht übertragbar. Durch diese Regelung solle der durch von bissigen Hunden ausgehenden allgemeinen Gefährlichkeit für andere Tiere begegnet werden. Da sich Beißattacken von Hunden letztlich gegen Tiere aller Spezies in gleicher oder ähnlicher Weise richten könnten, sei kein sachgerechter Grund dafür ersichtlich, Hunde als Opfer von Bissen anderer Hunde aus dem Regelungsbereich der ersten Alternative von § 2 Abs. 2 Nr. 2 HundeVO auszunehmen.
Auf der Grundlage des Sachverhalts, wie er sich nach dem Inhalt der Behördenakten und nach dem Ergebnis der in erster Instanz durchgeführten Beweisaufnahme darstelle, lägen die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 2, 1. Alt. HundeVO in Bezug auf den Hund der Klägerin vor.
Fest stehe danach zunächst, dass der Rüde den Border-Collie des Zeugen S. gebissen habe.
Durch den Biss sei der Hund des Zeugen S. im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2, 1. Alt. HundeVO geschädigt worden. Durch den Biss habe „B.“ eine Verletzung an der linken Halsseite in Form zweier kleiner Wunden davongetragen. Bereits hierdurch sei eine Schädigung im Sinne der oben genannten Bestimmung eingetreten.
Mit dem Begriff der Schädigung greife der Verordnungsgeber auf den polizeirechtlichen Schadensbegriff zurück. Ein Schaden im ordnungsrechtlichen Sinne läge bei jeglicher Verletzung geschützter Rechtsgüter vor. Bei der Schädigung im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 2, 1. Alternative HundeVO sei ein Schaden in der besonderen Form der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des gebissenen Tieres gemeint. Ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Tieres sei dann anzunehmen, wenn bei ihm ein von den normalen körperlichen Funktionen abweichender Zustand hervorgerufen oder gesteigert werde.
Ein von den normalen körperlichen Funktionen abweichender Zustand sei schon durch die dem Hund des Zeugen S bei der Beißattacke des Rottweilers der Klägerin unmittelbar beigebrachte Verletzung eingetreten.
Selbst wenn man der Ansicht des Verwaltungsgerichts folgen und der Auffassung sein sollte, dass die unmittelbare Bissverletzung des Border-Collies und der durch den Vorfall bedingte Schockzustand des Hundes als geringfügig und deshalb nicht als Schädigung zu betrachten seien, verbiete sich diese Betrachtungsweise jedenfalls im Hinblick auf die bei dem Hund später eingetretene, erheblich schwerer wiegende Gesundheitsbeeinträchtigung (Hämatom).
Auch die weitere Voraussetzung des § 2 Abs. 2 Nr. 2, 1. Alternative HundeVO, dass der das andere Tier schädigende Biss erfolgt ist, ohne dass der Hund selbst angegriffen wurde, sei erfüllt.
Nach den – auch insoweit übereinstimmenden – Aussagen der Zeugen sei der Border-Collie von dem Hund der Klägerin ohne vorangehende Begegnung der beiden Hunde unvermittelt angegriffen worden. Ein von dem Border-Collie ausgehender Angriff auf den Hund der Klägerin oder auch nur ein von ihm möglicherweise als Aggression zu erkennendes Verhalten des Border-Collie sei nach dem sich aus dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahmen ergebenden Sachverhalt auszuschließen.
Da somit sämtliche Tatbestandsmerkmale des § 2 Abs. 2 Nr. 2, 1. Alternative HundeVO erfüllt seien, bedürfe es für die Feststellung der Gefährlichkeit nicht etwa noch der weiteren Prüfung, ob das von dem Hund gezeigte Verhalten eine übersteigerte Aggressionsbereitschaft erkennen lasse. Die Forderung nach einer zusätzlichen Überprüfung, ob das Beißverhalten eines Hundes Ausdruck einer übersteigerten Aggressionsbereitschaft sei, sei mit Sinn und Zweck des § 2 Abs. 2 HundeVO nicht vereinbar.
Soweit sich das Verwaltungsgericht nachfolgend mit der Frage auseinandersetze, ob der Hund des Zeugen S. bei dem Angriff eine artübliche Unterwerfungsgestik gegenüber dem Hund der Klägerin gezeigt habe, beziehe sich diese Ausführungen auf die zweite Alternative des § 2 Abs. 2 Nr. 2 HundeVO. Diese Bestimmung sei indessen auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Diese Bestimmung erfasse ein im Verlauf von Rangstreitigkeiten oder sonstigen Auseinandersetzungen zwischen Hunden aufgetretenes übersteigertes Aggressionsverhalten eines Hundes, das sich in einem Zubeißen trotz erkennbarer artüblicher Unterwerfungsgestik des anderen Hundes geäußert habe. Eine solche Rangelei zwischen dem Hund der Klägerin und dem des Zeugen S. sei der Beißattacke des Rottweilers aber gerade nicht vorausgegangen. Vielmehr habe der Hund der Klägerin den Border-Collie unvermittelt und überraschend angegriffen, ohne dass der gebissene Hund überhaupt Gelegenheit zu einer Abwehrreaktion oder Unterwerfungsgeste gehabt hätte. In Folge dessen könne sich die Klägerin nicht mit Erfolg darauf berufen, dass eine solche Unterwerfungsgestik des gebissenen Hundes unterblieben sei.
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Rechtsanwältin Susan Beaucamp